Viele Mythen und Legenden ranken sich um die fernöstlichen Kampfkünste. Von unbesiegbaren HeldInnen und wundersamen Techniken ist die Rede, die jeden Gegner lässig niederstrecken.
Das ist so dumm wie falsch und schon allein das Wort Gegner ist dabei der falsche Begriff. Ursprünglich hat man Wushu / Kung Fu zur körperlichen und geistigen Fitness erschaffen. Erst viel später haben die Shaolin Mönche daraus die Kunst der Selbstverteidigung gemacht.
Die kämpfende Kunst
Vor einigen Monaten hatte ich am Beispiel Karate über den Unterschied zwischen Kampfkunst und Kampfsport geschrieben und warum die reine Kampfkunst in einem Wettkampf unbrauchbar ist.
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Bei meinem Aufenthalt in den USA, habe ich mehrfach mit Sifu Feng über dieses Thema gesprochen. Auch sein Wettkampf Tai Chi ist nur die abgewandelte Form jener Kunst, die in Konkurrenz zu den aus dem Shaolin „Kung Fu“ entwickelten Stilen steht.
Für Feng überraschend, dass ich als Karateka, die „Klebenden Hände“ beherrsche. Einerseits gibt es die auch im Goju Ryu Karate und andererseits im Wing Chun. Und auch das habe ich gelernt.
Wing Chun, das man mit „Ewiger Frühling“ übersetzen kann, ist ein vermutlich im frühen neunzehnten Jahrhundert entstandener südchinesischer Kung Fu Stil, der seit den 1970er Jahren auch Furore im Westen macht. Leider haben Geschäftemacher viel kaputt gemacht, aber das soll heute kein Thema sein.
Kurz vor meiner Abreise hatte Feng Besuch von einem befreundeten Sifu, der als Kind und Jugendlicher zehn Jahre lang Wing Chun trainierte und vor fast zwanzig Jahren zum Tai Chi gewechselt ist. Gemeinsam haben wir die beiden Systeme analysiert und die Unterschiede herausgestellt. Und das war auch für mich hochinteressant.
The men of Tai Chi
Sifu Dan ist Amerikaner und knapp vierzig Jahre jung. Sein Stiefvater habe bei Hawkins Cheung in Los Angeles trainiert und ihn zum Training mitgenommen, erzählt er uns. „Als Kind hat mir Wing Chun geholfen“, sagt er. „Ich war ein schmächtiges Kerlchen und immer Opfer der älteren Schüler. Als ich mich erstmals wehrte, haben sie mich in Ruhe gelassen.“
Fast automatisch erscheinen die Bilder in meinem Kopf, die mich als siebenjähriges Mädchen auf dem Pausenhof der Schule zeigen und als „Opfer“ eines üblen Streichs. Ein Mitschüler hatte mich ohne Vorwarnung zu Boden gestoßen, beleidigt und dabei noch gelacht. Mein Karate hat ihm dann Manieren beigebracht.
„That’s life in the USA“, stichelt Feng und lacht. Die Männer nicken wissend, als ich meine Geschichte erzähle. „Ich glaube das haben wir alle durchgemacht“, sagt Dan. „Aber im Gegensatz zu anderen sind wir wieder auf die Füße gekommen.“
„Warum und wann hast du mit Wing Chun aufgehört?“, will ich wissen. Seine Antwort ist überraschend. „Nicht aufgehört“, lässt er mich wissen, „in meiner Schule wird auch Wing Chun unterrichtet. Nur unser Schwerpunkt ist Tai Chi.
Ich bin als junger Bursche zu den Marines. Wing Chun hat mir zu Beginn meiner Ausbildung geholfen, aber als wir Bodenkampf und Boxen übten, stand ich auf verlorenem Posten.“
Ich ahne warum, aber will es genauer von ihm wissen. „Woran genau lag es deiner Meinung nach?“ „Wir haben bei Hawkins zu wenig Sparring gemacht und nie mit fremden Stilen geübt. Alles war sehr theoretisch. Und ich kann schlecht einem Trainingspartner die Knochen brechen.“
Gegen jede Regel
Dan spricht ein Problem an, das viele Kampfkünstler haben, wenn sie in einem Ring nach Regeln kämpfen sollen. Schläge zum Kehlkopf oder Tritte in den Unterleib gehören zur Selbstverteidigung, im Sport sind sie aus gutem Grund verboten.
Auf der anderen Seite gibt es aber diese Arroganz scheinbarer Überlegenheit im Lager der Wing Chun Verfechter. Und das ist, bei aller Sympathie für diesen Stil, eine glatte Lüge. Dan sieht das ebenso. „Hawkins Cheng ist ein netter Kerl. Aber er hat auch den 3. Dan im Karate.
Viele, die sich jetzt Sifu nennen und wirklich gute Wing Chunler sind, haben noch einen zweiten oder dritten Hintergrund. Sie mixen diverse Stile und erst das macht sie gut. Oder sie schummeln, wie Sifu Moore.“
Dan zeigt uns ein Video, das ich ebenfalls kenne. Ein beleibter Mann, wird von einem schmächtigen Karateka „angegriffen“ (Sparring) und schiebt diesen dann quasi vor sich her. Das hat wenig mit Wing Chun, aber viel mit physikalischen Gesetzen zu tun. Der Mann ist einfach schwerer. Punkt.
„Ein großer Nachteil diverser Stile, ist der Fokus auf Hände und / oder Füße“, sagt Dan. „Wir können Tritte und Schläge, aber am Boden verlieren wir.“ „Das klingt wie Werbung für Brasilian Jiu-Jitsu (BJJ)“, stichele ich. „the most effective Martial Arts on the Planet.“
And the winner is …!
Herzliches Lachen folgt meinen Worten, die beiden verstehen den Gag. „BJJ ist in erster Linie Sport“, sagt Dan und auf der Straße völlig unbrauchbar. Das gilt für alle ringenden Sportarten. Kein Mensch wälzt sich auf dem Asphalt.
Die scheinbare Überlegenheit von BJJ basiert auf dem Überraschungseffekt, den auch Wing Chun kennt und auf deren Regeln. Bei Vergleichskämpfen mit BJJ scheuen sich andere Sportler sehr oft, die wirklich effektiven Kicks oder Schläge zu landen.“
„Oder sie dürfen nicht“, füge ich hinzu. „Bei Judoka oder Ringern sieht das ganz anders aus. Kein BJJ-Sportler steht lange gegen einen guten Freistil Ringer. Man kann solche Sportarten ganz schlecht vergleichen.“
„Ich sehe Wing Chun als eine Sonderform unter den Kampfkünsten“, sagt Dan und nickt zustimmend. „Es ist reine Selbstverteidigung und eine Art Straßenkampf. Relativ einfach aufgebaut gibt es dort keine Geheimnisse. Die werden nur von diesen selbsternannten Großmeistern Leung Ting und Keith Kernspecht propagiert. Jeder kann Wing Chun erlernen. Dafür braucht es keine Ewigkeit.“
„Mit erlernen meinst du die Formen oder die Techniken inklusive Schmetterlingsmesser und Langstock?“, frage ich. „Wenn du Wing Chun als reine Kunst siehst und wirklich jede Handbewegung akribisch und auf den Millimeter genau lernen möchtest, wirst du vermutlich ewig brauchen“, erwidert Dan. „Und du wirst im Ernstfall die Prügel deines Lebens beziehen. Die meisten Wing Chunler können nicht kämpfen.“
Dans Worte sprechen das Problem an, das ich am Beispiel Aikido verdeutlichen will. Aikido ist als Wettkampfsport völlig ungeeignet und nur die kultivierte Form des Aikijujutsu. Bei Wing Chun ist das ähnlich. Nur gibt es dort keine offizielle sportliche Form. Eventuelle Wettkämpfer sind einfach nur Kickboxer.
Die Analyse
Dan holt einen Schnellhefter aus der Tasche und zeigt uns auf mehr als fünfzig Seiten seine Analyse von Wing Chun und Tai Chi. Grob gesagt ist sein Fazit, dass Tai Chi das wesentlich komplettere System ist, schwieriger zu lernen, aber im Endeffekt effektiver.
„Wing Chun ist nicht komplett“, erklärt Dan. „Man hat dort Elemente aus dem Tai Chi und vermutlich dem Shaolin Kung Fu sozusagen extrahiert und um ein imaginäres Dreieck herum modifiziert. Ich spreche von den kurzen, schnellen Bewegungen, die immer die eigene Mitte schützen und gleichzeitig zum Zentrum des Gegners gehen.
Der Erfolg, den einige wirklich gute Wing Chunler mit dieser Methode haben, basiert lediglich auf dem Überraschungseffekt. Aber mit einem Kettenfauststoß gewinnt man keinen ernsthaften Kampf. Mit einem Tritt in den Unterleib schon.“
„Das ist mein Spruch!“, protestiere ich lachend. „Ich glaube ich weiß, was du meinst. Auch Karate kommt ursprünglich aus China und ist vermutlich aus dem Weißen Kranich Stil entstanden. Aber Japaner sind Puristen und haben überflüssige Bewegungen eliminiert, was sehr gut im Shotokan Karate zu sehen ist. Mein Stil, das Goju Ryu, ist noch näher am Original.“
„Tai Chi basiert auf einem Kreis“, fährt Dan fort und Feng stimmt zu. „Greift ein Gegner an, wird der Wing Chunler der Kraft ausweichen oder um sie herum arbeiten und gleichzeitig attackieren. Tai Chi wird die Kraft, den Schlag oder Tritt quasi aufnehmen und absorbieren, um erst dann zu attackieren.
Dreieck und Kreis
Die Bewegungen beim Tai Chi sind kreisförmig, um es einfach auszudrücken. Beim Wing Chun dagegen eckiger (Dreieck Prinzip). Ein weiterer Unterschied liegt im sogenannten Trapping, dem immobilisieren der Arme oder Beine.
Das funktioniert im Training für Wing Chunler wunderbar. Im realen Leben habe ich so meine Zweifel. Steht mir ein muskulöser Kraftmensch gegenüber, so geht das in den meisten Fällen gewaltig schief.
Tai Chi macht das besser, indem man einen Gegner aus der Balance bringt. Greift jemand nach mir, gebe ich nach und leiste keinen Widerstand. Bis zu diesem Punkt kann man sich darüber streiten, ob beide Systeme nicht teilweise das Gleiche machen, wenn auch mit anderen Methoden.
Der größte Unterschied liegt aber meiner Meinung nach in der Sensitivität. Wing Chuns klebende Hände sollen hier das Maß aller Dinge sein, was nur zum Teil richtig ist. Nicht nur Wing Chun kennt diese Form, wie Mayumi schon angesprochen hat, gibt es die auch im Okinawa Karate und anderen Kung Fu Stilen.
Mit dem Unterschied, dass im Wing Chun leider wirklich nur die Arme sensibilisiert werden, im Tai Chi aber der ganze Körper. Wing Chun gilt als reiner „Close Range Combat.“ Und das macht das System recht gut. Bis man, rein theoretisch, auf den Weltmeister im Kyokushin-Karate trifft.“
Kick it
Wir müssen alle lachen. Dan spricht von den blitzartig aus nächster Nähe nach oben gezogenen oder gesprungenen (Dreh)Kicks zum Kopf, mit denen ich Feng im Sparring überraschte. „Wing Chun übt Druck nach vorn (auf den Angreifer) aus“, fährt Dan fort, „aber es geht immer nur um die Mitte, das Zentrum.
Tai Chi ist ein 360 Grad System, das sich wie ein junger Baum verhält. Zieht man daran oder drückt und lässt dann los, geht der Baum in seine ursprüngliche Position zurück. Tai Chi attackiert den ganzen Körper und ist das wesentlich komplettere System. Falls man es bis zum hohen Level schafft.“
„Der Blick über den Tellerrand ist wichtig“, ergänze ich. „Unbedingt!“, stimmt mir Dan zu. „Es geht mir nicht darum einen Stil zu verteufeln und die Überlegenheit eines anderen anzusprechen, aber viele meiner Schüler haben vorher etwas anderes gemacht und sind nun wesentlich zufriedener mit ihren Erfolgen.“
„Könnte man Wing Chun als Einstieg in die Welt der Kampfkunst sehen?“, will ich wissen und Dan nickt. „Das hast du gut formuliert“, erwidert er, „aber ich sehe das komplexer.
Wie ich schon sagte ist Wing Chun ein einfaches System, das vor allem für körperlich schwächere Menschen interessant ist. Vor allem für Frauen.“ Er grinst, als er meinen Mittelfinger sieht. Humor, den auch Dan versteht.
Hinterm Horizont geht’s weiter
„Du wirst dort viele treffen, die kaum Fitness haben oder einfach unbeweglich sind“, fährt er fort. „Für die wäre Karate Mord. Auch für Kinder ist Wing Chun eine tolle Sache. Aber wer Wunder erwartet, wird bitter enttäuscht.
Wer dazu in der Lage ist und echte Fortschritte machen möchte, dem rate ich sich auch anderweitig umzusehen. Ohne den direkten Vergleich, wird man immer limitiert bleiben. Und die angeblich so guten Wing Chunler aus Hongkong machen in Wirklichkeit nur Sanda (Chinesiches Kickboxen).“
Auch Feng stimmt zu. „Ja“, sagt er, „das habe ich mittlerweile auch erkannt. Ich musste auch Kickboxen lernen, um bei Meisterschaften erfolgreich zu sein. Trotzdem hat mir mein Tai Chi Hintergrund dabei geholfen. Und schon Bruce Lee hat die Stile gemischt.“
Unvermischt und pur bleibe nur ich meinen LeserInnen erhalten. Auch wenn ich Deutschland nächste Woche wieder in Richtung USA verlassen werde.