Kalter Stahl bohrte sich in Svens Brust und zerfetzte seine Lunge. Der junge Wikinger wollte schreien, aber der wütende Schmerz raubte ihm den Atem. Sein Gegner holte zum entscheidenden Schlag aus, dann fiel er selbst tot zu Boden. Svens brechende Augen nahmen einen Schatten wahr, der aus dem Nichts erschienen vor ihm stand. „Ylva!“, hauchte er, dann senkte sich der Nebel des Vergessens über ihn.
Svens Bruder Eric eilte herbei und schlug sich eine Schneise durch die schier endlosen Reihen der Gegner. Die Wikinger waren umzingelt, sie hatten keine Chance gegen die erdrückende Übermacht. Die Hälfte war schon gefallen oder lag verwundet am Boden. Erics Magen verkrampfte sich, als er die weiße Kriegerin sah. Vor ihm stand seine tote Schwester!
Ylvas Augen waren so blau wie der junge Morgen. Ein leises Lächeln lag auf ihren Lippen. „Brüderchen“, neckte sie den Älteren, „wie schön dich wiederzusehen.“ Eric fragte nicht. Er rief seine Männer, die sich schützend um Thore stellten. „Bei Odin!“, rief Eric, als der Verwundete die Augen öffnete, „du lebst noch!“
Eric, Sven und Ylva waren Geschwister. Ihr Vater bildete sie gemeinsam aus und nahm sie mit auf große Fahrt. Eric war der Stärkere, Sven war dafür doppelt so flink. Aber Ylvas Schwertkunst war niemand gewachsen, auch ihre Brüder nicht. Mit wenig Kraft aber tödlicher Eleganz erschlug sie alle Gegner. So auch an diesem Tag.
Die Männer bildeten einen Kreis und hoben die Schilde, als die Gegner kamen. Ylvas Bewegungen waren so schnell, dass keiner ihre Schläge kommen sah. Als immer mehr der Angreifer zu Boden gingen, wichen die anderen zurück. „Bogenschützen!“, ertönte ein Kommando, das Schicksal der Wikinger besiegelte sich. Dann kamen die Wölfe.
Eric hatte schon an einigen Schlachten teilgenommen, aber diese war die blutigste. Ein ganzes Rudel Wölfe fiel über die schreienden Angreifer her und zerfleischte sie. Nur die Wikinger blieben verschont. Eric fielen zwei Wölfe auf, die etwas größer und wilder als die anderen waren. Ein erster Verdacht schlich sich in seine Gedanken. Was ging hier wirklich vor?
Die Stille des Todes lag über dem Schlachtfeld. Ylvas Hand lag auf Svens Brust und Eric glaubte ein feines Leuchten zu sehen. „Es wird alles gut!“, flüsterte Ylva, als plötzlich Hörner erklangen. Die schon geschlagene Truppe der Gegner hatte massive Verstärkung bekommen. Eric holte tief Luft. Er wusste, das konnte nur das Ende sein.
„Zu mir!“, rief Ylva und die Wölfe gehorchten. Zwei Dutzend scharten sich um sie, zu allem bereit. Eric sah sich um. Tausend wenn nicht mehr Gegner hatten sie umringt. Er sah Reiter auf Pferden und eine ganze Abteilung Lanzenträger. Trotzdem hatte er keine Angst. Ein Platz in Valhalla war ihm sicher. Sanft fiel der erste Schnee.
Als die Gegner langsam vorrückten, hob Ylva beide Hände zum Himmel. Eric würde die verstörten Blicke der Sterbenden nie vergessen, als gewaltige Blitze die ganze Armee vernichteten. Der Geruch von verbranntem Fleisch raubte ihm den Atem, einige Wikinger übergaben sich. „Kehrt nach Hause zurück“, hörte Eric die Stimme seiner Schwester. „Heute haben euch die Götter selbst beschützt.“
„Bist du wirklich die kleine Ylva?“, fragte Eric und griff nach der kalten Hand seiner Schwester. „Ylva war ich früher“, sagte sie. „Ich erinnere mich an euch.“ „Aber du bist doch gestorben!“, sagte Sven und erhob sich mühsam. „Ertrunken im Meer!“ Er tastete nach seiner Wunde. „Kein Blut mehr, aber wie …?“ Ylvas Lächeln breitete sich wärmend in den Herzen der Wikinger aus. „Geht nun“, sagte sie und ihre Stimme verklang im Wind. „Geht, aber vergesst mich nicht.“
Sven und Eric sahen die Gestalt der Kriegerin, die einst ihre Schwester gewesen war, noch lange am Ufer stehen. Die Wölfe waren verschwunden. Wind blähte das Segel des Schiffs. Am Himmel erschienen seltsame Wolken, die an zwei Wölfe erinnerte. „Geri und Freki!“, rief Eric, „wieso ist mir das nicht früher aufgefallen!“ „Odins Wölfe?“, wollte Sven wissen. „Dann ist das nicht unsere Schwester?“
Eric legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. „Zumindest ihre Erinnerung. Wir sollten Thor und Odin dankbar sein. Sie haben uns heute gerettet. Lass uns nach Hause fahren.“ Ylva stand noch lange am Ufer, der Schnee hatte die Toten zugedeckt. Als das Schiff am Horizont verschwand, löste sich ihre Gestalt mit einem leisen Lachen auf. In der Ferne heulten Wölfe.