Ein Anruf im November hat uns überrascht. Großvater Satoshis Enkel hat sich bei meinem Vater gemeldet und ist nun zu Gast in Düsseldorf. Es ist Kens letztes Wochenende in Deutschland, das er gern mit uns verbringt. Auf der Fahrt rätseln wir, wie der Besucher ist. Wer er ist, das wissen wir. Und meine LeserInnen gleich auch.
Wir treffen auf einen jungen Japaner, der kaum älter ist als ich. Die Ähnlichkeit mit Satoshi ist offensichtlich, er hat die gleichen Augen.
Wir dürfen ihn Cousin nennen, er hört das gern. Und meinen Vater nennt er respektvoll Onkel. Japaner unter sich.
Cousin Naoki ist höflich und offener, als ich erwartet hatte. Er ist oft in Europa und den USA. Dort betreut er Kunden.
„Großvater lebt in einer Welt, die die Jahrhunderte überdauert hat“, sagt er. „Traditionen bedeuten ihm sehr viel. Und Familie ist ihm wichtig.“
„Du siehst deinem Großvater sehr ähnlich“, sage ich. „Bist du es auch?“
Der Pfeil ist auf den Weg gebracht.
Ken grinst bei meinen Worten. Diesmal hat er sie verstanden.
„Ich bin kein Shinobi“, erwidert Naoki amüsiert. „Das sind nur alte Geschichten, die einen Kern Wahrheit in sich tragen. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus.“
Er trinkt einen Schluck Tee und schaut mich an. Ein kurzer Zweikampf der Blicke, den ich für mich entscheide. Aber Naoki ist keine Gefahr, das kann ich spüren.
„Der Ahn hat damals in Iga gelebt“, beginnt Naoki zu erzählen. „In einer Region, die unabhängig war. Dort gab es keine Killer. Die Clans waren einfach nur selbstbewusst. Man lebte von Ackerbau, Viehzucht und Handwerk. Und einen Tempel gab es auch. Die Menschen waren Bauern, einfache Leute, die ihren Frieden gefunden hatten.“
Deine Wahrheit, meine Wahrheit.
„So einfach können sie nicht gewesen sein“, stelle ich fest. „Immerhin haben sie Oda Nobunagas Sohn in einer Schlacht geschlagen.“
„Ja“, sagt Naoki. „Die Clans sind unbequem gewesen. Stehst du auf keiner Seite, so wird die Seite zu deiner gemacht. Und Oda Nobunaga hatte große Macht. Die Shinobi waren ein Dorn im Auge der Mächtigen. Zu selbstbewusst, zu gefährlich durch ihre Kunst. Auch ein Karate-Meister bildet keine Mörder aus. Aber der Schüler kann Karate zum töten nutzen.“
Und damit hat er recht.
„Ninja, Shinobi waren Menschen ihrer Zeit, die politischen Interessen dienten“, erklärt uns Naoki. „Vieles ist Legende. Aber wir glauben, dass sie Spezialisten waren. Einige auch für Morde, aber hauptsächlich haben sie Informationen beschafft. Und ganz gewiss nicht in dunkler Kleidung und bei Nacht.“
„Ich finde es zum schreien, wenn Ninjas in Hollywood-Filmen Tritte benutzen, die zumindest in Japan keiner kannte“, sage ich. „Und Chinesen haben auch kaum hoch gekickt.“
Naoki nickt und ein erstes Geheimnis lüftet sich.
„Es gibt von dem Ahn Dokumente, die von den Ninja und Iga berichten. Er schreibt von der Harmonie zwischen Mensch, Buddha und der Natur.“
„Was beweist, dass er kein Bauer war“, sage ich. „War er ein Samurai?“
„Er war ein Ronin (herrenloser Krieger)“, erwidert Naoki, „der eine neue Heimat in Iga fand. Auch Freunde und Familie. Seine erste Frau und seine Tochter sind bei dem Massaker umgekommen. Wir entstammen der zweiten Verbindung mit einer jungen Witwe, die noch keine Kinder hatte.“
Liebe besiegt immer Hass.
„Unser Vorfahr hat viel von den Ninja gelernt“, fährt Naoki fort. „Und zumindest eine Form des Taijutsu (japanische Bezeichnung für waffenlose Kampfkünste) hat er perfekt beherrscht. Er hat diese Kunst an seine Söhne und Enkel vermittelt und die immer weiter, bis zum heutigen Tag.“
Er lacht, als ich ihm die alles entscheidende Frage stelle.
„Kannst du diese Kunst?“
„Ja“, erwidert er. „Aber die hat wenig mit dem Bujinkan von Masaaki Hatsumi zu tun.“
„Der Oberninja“, stelle ich respektlos fest. „Immerhin hat er die Kunst bekannt gemacht.“
Aber war das auch gewollt?
Naokis Gesicht spricht eine ganz andere Sprache und wie wenig er von dem Bujinkan-Großmeister hält.
„Im Gegensatz zu Großvater bin ich durchaus dafür, dass unsere Kunst auch von Fremden erlernt werden kann“, fährt er fort. „Der Mythos Ninja sollte entzaubert werden. Aber manche Legenden leben ewig. Nur bin ich gegen diese totale Kommerzialisierung. Das, was Ninjutsu wirklich ist, beherrschen nur noch wenige Menschen auf der Welt. Der Rest macht Jiu Jitsu und Sport-Karate.“
„Der spirituelle Aspekt geht immer mehr verloren“, stimmt mein Vater zu. „Mayumi und ich versuchen ihn zu vermitteln, aber das ist in Europa sehr schwer.“
Es kribbelt in meinem Bauch. Er hat meinen Namen an erster Stelle genannt und mich damit geadelt.
Meisterliche Worte. Auch dafür liebe ich ihn.
„Wir haben lange gebraucht, um einen Hinweis auf diesen Ahn zu finden“, sagt mein Vater. „Fast hätte ich den Eintrag übersehen. Wer war er, was ist mir ihm geschehen?“
„Soweit wir wissen, ist ihm damals als Frau verkleidet die Flucht gelungen“, erwidert Naoki und bestätigt damit meine Theorie. „Oda Nobunaga hat ein Massaker angerichtet und Tausende sind erschlagen worden. Die Übermacht war 10:1, was viel über Nobunagas Charakter sagt.“
„Er hat seine Ehre wiederhergestellt“, werfe ich ein.
„Und Unschuldige getötet“, gibt Naoki zurück. „Frauen und ihre Kinder.“
Der Sieger macht die Regeln, das war schon immer so.
Ob wir nun wirklich einen Ninja in der Familie haben, darüber ist sich selbst Naoki nicht schlüssig. Selbst Großvater Satoshi hat ihn nur einen Bauern genannt.
Aber er war ein Ronin, ein herrenloser Krieger. Kampf war also sein Beruf. Zumindest hat der Ahn in Iga gelebt. Das sagt alles und nichts.
Naokis Besuch war aufschlussreich. Als er geht verspricht er in Kontakt zu bleiben. Und das glauben wir ihm.
Für einen kurzen Augenblick, haben sich die Nebel von Iga noch einmal gelüftet. Wir sind eingetaucht in eine Welt, die vor vielen Jahren vergangen ist.
Aber manche Dinge wollen verborgen bleiben.
Auch echtes (Familien)Ninjutsu habe ich gesehen. Und das fand ich wunderbar.
Im Endeffekt ist es mit meinem Aiki-Jujutsu verwandt. Was vielleicht bedeutet, dass ich wirklich eine Kunoichi bin.
Als ich das sage, hat Naoki herzlich gelacht. Es ist keine Arroganz, er versteht den Spaß.
Die Chronik meiner Familie ist vollständiger geworden. Und das nächste Kapitel schreiben Yuki und ich.