Die Engel von Dortmund

Dortmund im Sommer vor einigen Jahren. Ein Samstagabend, es ist spät. Die Japanerin Rika ist auf dem Rückweg zu ihrem Auto. Den Tag hat sie mit einer Freundin verbracht, deren Küsse noch auf ihren Lippen brennen. Rika lächelt versonnen. „Wir werden uns bald wiedersehen“, murmelt sie. Geparkt hat Rika in einer Seitenstraße, die plötzlich völlig anders aussieht. Entschlossen geht sie den Weg zurück, als eine Stimme zu hören ist.

„Hey Kleine!“, ruft ein Mann, „wohin willst du so allein?“ Rikas Blick fällt auf einen Hauseingang. Mehrere Zigaretten glimmen. Das sieht nach Ärger aus. Rika schaut sich um, während die Männer zügig in ihre Richtung gehen. Zurück kann Rika nicht, die Männer schneiden ihr den Weg ab. Die Japanerin hat den Schwarzen Gürtel in Karate, aber ein Kampf in der schlecht beleuchteten Straße birgt Risiken. Soll sie es mit Worten versuchen?

Die Leuchtreklame einer Kneipe glimmt ein Stück entfernt. Ohne zu zögern läuft Rika los und hört, wie die Männer ihr folgen. Rika ist schnell, aber ist weglaufen die beste Idee? Ihre Verfolger kommen fluchend näher, im letzten Moment reißt Rika die Tür der Kneipe auf. Ist die Japanerin in Sicherheit?

Im Halbdunkel erkennt sie ein halbes Dutzend Biker, es riecht nach Alkohol und Zigarettenrauch. „Hilfe!“, sage sie mit fester Stimme, „ich brauche bitte Hilfe, ich werde verfolgt!“ „Was ist los?“, hört sie und ein riesiger Kerl taucht hinter dem Tresen auf, „komm rein, hier bist du in Sicherheit.“

„Ich bin auf dem Weg zu meinem Auto“, erklärt Rika wahrheitsgemäß, „aber ich habe mich in der Straße geirrt. Mindestens vier Männer sind hinter mir her.“ Der Hüne, offenbar der Wirt, kneift die Augen zusammen und schaut in die Richtung der anderen Gäste. Die nicken wie auf ein geheimes Kommando und marschieren auf die Straße.

„Du bleibst hier“, sagt der Wirt und folgt den Männern. Hart fällt die Tür ins Schloss. Während sich Rika in der Kneipe umschaut hört sie von draußen einen Disput, dem dumpfe Geräusche und Schreie folgen. Kurz darauf stehen die Biker grinsend vor Rika. „Alles gut“, sagt der Wirt, „da hatten sich welche in der Adresse geirrt.“

Die Männer winken nur ab, als Rika sich bedankt, der Wirt gibt eine Runde aus. „Komm,“ sagt er zu der Japanerin, „trink mal einen auf den Schreck.“ Rika schaut ihn an und schenkt ihm ein typisch japanisches Lächeln. „Asiaten vertragen doch keinen Alkohol“, erwidert sie, „aber ich nehme gern einen Saft.“ Wird der Mann sie verstehen?

„Stimmt“, sagt er, „sorry, war mein Fehler. Saft haben wir leider keinen, aber ich kann dir ein Ginger Ale geben.“ „Kann ich bitte die Flasche haben?“, fragt Rika und schaut ihn offen an. „Cleveres Mädchen“, sagt der Wirt anerkennend, „aber wie ich bereits sagte, hier droht dir keine Gefahr. Finde ich aber gut, dass du so vorsichtig bist. Das habe ich meiner Tochter auch beigebracht. Mein Name ist übrigens Frank.“

Rikas Anspannung löst sich, während sie aus der Flasche trinkt. Zwar hat sie stets den Ausgang im Blick, aber die Männer haben nichts Böses im Sinn. Wer sie sind ist ihr sofort klar, als sie die Kutten der Biker sieht. „Wo sind eure Motorräder?“, will Rika wissen, „oder seid ihr zu Fuß unterwegs?“ 

„Die stehen im Hinterhof“, sagt der Wirt, „willst du sie mal sehen?“ Stolz präsentieren die Männer ihre Maschinen. Im grellen Licht einer Leuchtstoffröhre sieht Rika, dass keiner der Biker unter 40 ist. „Wir sind alles normale Menschen, die Spaß am Motorradfahren haben,“ wird ihr erklärt. Das 1%-Abzeichen an ihren Kutten sagt das Gegenteil aus. Aber Rika ist keine Richterin.

Zurück in der Kneipe unterhalten sich die Männer mit ihr. „Japanerin bist du also“, sagt einer der Biker, der sich als Stefan vorgestellt hat und dem Wirt sehr ähnlich sieht. Er ist sein jüngerer Bruder wie Rika kurz darauf erfährt und hat früher auch Karate trainiert. „Glaubt man kaum“, lacht Stefan und deutet auf seinen Bauchansatz, „aber ich bin immer noch ziemlich flink!“

Er steht auf und zeigt einige fast perfekte Tritte, allein die Lederhose hindert ihn etwas daran. „Darf ich?“, fragt Rika und stellt sich neben ihn. „Schau, so ist es besser.“ Der Biker sperrt Mund und Nase auf, als Rikas Bein blitzartig zur Seite schnellt. „Super!“, hört sie, „das kannst du aber gut! Hast du den Schwarzen Gürtel?“ Rika lächelt und nickt. „Mein Papa hat mir Karate beigebracht.“

Prompt fachsimpeln die Männer über Selbstverteidigung, der Wirt fragt Rika gezielt nach einem Kampfsport für seine Tochter. „Lass sie Krav Maga lernen“, sagt Rika, „das geht schnell und ist wirklich effektiv.“ Mittlerweile ist es 02:30 Uhr. Rika ist müde und möchte nach Hause. „Kein Ding“, sagt der Wirt, „aber wir begleiten dich zu deinem Auto. Du müsstest mir nur sagen, wo es in etwa steht.“ Rika versucht sich zu erinnern und beschreibt einige Details. „Das ist eine Straße weiter“, erklärt Frank. „Los Jungs, wir bringen sie.“

Es ist ein komisches Gefühl für Rika von sechs Männern umringt zu sein, die wachsam wie Raubtiere ihre Umgebung mustern. Die Gruppe geht durch eine Querstraße, die wenig vertrauenerweckend wirkt. Ein Betrunkener übergibt sich, zwei falsche Mädels schleppen einen Touristen ab. „Der wird sich wundern, wenn die ihre Dödel auspacken“, flachst der Wirt und die Männer lachen.

Rikas Auto ist unversehrt, sie hat nichts anderes erwartet. Niemand stiehlt einen alten Toyota. „Wie, kein Sportwagen?“, fragt Frank, „ich dachte hier steht ein japanischer Flitzer.“ „Den ich warum brauche?“, fragt Rika und erntet ein dröhnendes Lachen. Die Biker verabschieden sich, Rika bedankt sich ein weiteres Mal. Plötzlich bleibt Frank stehen und kommt zu ihr zurück.

„Du hast kein bisschen Angst gehabt, oder?“, will er von Rika wissen. „Ich meine als du in die Kneipe kamst. Immerhin bist du eine Frau und wir keine wirklichen Engel.“ Rikas Lächeln lässt ihn nicken. „Das habe ich mir gedacht“, sagt er. „Was hättest du gemacht, wenn wir dir nicht geholfen hätten?“ „Um mein Leben gekämpft“, erwidert Rika wahrheitsgemäß und erntet einen anerkennenden Blick.

Rika hat weder den Wirt noch einen der anderen Biker jemals wiedergesehen. Als sie einige Monate später aus Neugier nach der Kneipe sieht, ist diese verschwunden. An ihrer Stelle hat ein Dönerladen aufgemacht.

 

Bild: Pixabay

8 Kommentare zu “Die Engel von Dortmund

  1. Eine schöne und spannende Geschichte. 🙂 Trainiert ihr noch regelmäßig Karate?
    PS: Ich schenke mir zu Weihnachten selbst eine Holzpuppe. Yi Man ist darüber nur mäßig erfreut, da es dann demnächst zu Hause oft „klackern“ wird.

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    • Eine zum Teil reale Geschichte. Aber das hast du bestimmt gewusst. 😉 Ich hatte die schon vor Ewigkeiten geschrieben und erst die Tage wieder entdeckt.

      Natürlich trainieren wir noch. Zur Zeit wieder unter den „strengen“ Augen meines Vaters, der auch unseren kleinen Wildfang ausbilden will. Darauf hat er schon viel zu lange gewartet, wie er immer wieder gern betont.

      Besser die Puppe aus Holz kaputtmachen, als deinem „Püppchen“ die Knochen zu brechen. 😀 Das musste jetzt mal wieder sein, schönes Wochenende dir!

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      • Ja, das hatte ich mir schon gedacht. 😉
        Wildfang: Wow, also wirklich… Meinen Glückwunsch! Ihr habt adoptiert, oder?
        Auf jeden Fall! Und einer Asiatin muss ich ja nicht schildern, was Yi Mans Familie dann mit mir machen würde… 😅

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      • Nächste Woche gibt es Aikos Geschichte zu lesen. Ich habe mich entschlossen einige Details mitzuteilen. Also Geduld bitte 😉

        Ich weiß nicht was Chinesen mit dir anstellen würden, als Japanerin hätte ich da die eine oder andere Idee 😀

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