Drachen gelten in der westlichen Mythologie als böse und verschlagen. In Japan sieht das anders aus. Zwar sind die Ryu (竜), wie Drachen dort heißen, auch nicht immer nett, aber Glücksdrachen kennt jedes Kind. Apropos Kinder, die natürlich auch an Fabelwesen erinnern. Die Zwerge. Und Drachenzwerge habe ich meine Kindergruppe genannt, die ich nun mit Linda trainiere.
Mein Plan ist einfach, ich werde die Kinder nach Talent fördern und auch den geistigen Aspekt anregen. Leider kann ich das Training nicht jede Woche leiten, 48 Stunden hat mein Tag noch nicht. Die kleine Gruppe ist auch mehr oder weniger privat, alle Familien sind befreundet. Und sobald bei Vanessa die Dinge geregelt sind, werden auch die Zwillinge ins Dojo kommen.
Sechs Mädchen und zwei Jungs, im Alter von fünf bis sieben Jahren, stehen für den Unterricht in Lindas Dojo bereit. Zwei Mädchen haben bereits Erfahrung im Judo, fanden das aber übereinstimmend „doof.“ Der Rest sind Anfänger und total aufgeregt. Einige der Kinder stammen aus Regenbogen Familien, Ein Mädchen und ein Junge haben hetero Eltern.
Von Anfang an ist es mir wichtig, dass Verständnis und Toleranz in der Gruppe herrscht. Und siehe da, es gibt kein Problem. Kinder mögen Uniformen. Und ein Karate-Gi ist etwas besonderes für sie. Bewusst habe ich Wert darauf gelegt, dass Farbe ins Spiel kommt. Schwarz, Blau, Rot und Weiß bunt gemixt. Das mögen die Kleinen. Und die noch weißen Gürtel werden bald anderen Farben weichen.
Auch mein Anzug ist nicht traditionell. Eine weiße Taekwon-Do Jacke und eine dunkle Hose sind mein heutiges Bild. Mein Schwarzer Gürtel fasziniert die Kinder.
„So einen mag ich auch haben“, lässt mich Leonie wissen.
Sie hat bereits zwei Jahre Judo hinter sich und ist die Älteste der Gruppe. Und sie hat Talent.
„Dann werden wir fleißig üben“, erwidere ich. „So ein Gürtel ist doch chic.“
Die erste Stunde dient den Grundlagen. Wie bewegt man sich, der Stand, wie benimmt man sich. Ich erzähle über die Geschichte des Karate, über Aikido und Kung Fu.
„Bringst du uns auch Kung Fu bei, Tante Mayumi?“, fragt mich Lars. „Und wie man richtig haut?“
Nun bin ich keine Tante und Lehrer werden in Japan Sensei genannt. Aber der Kleine ist Fünf und ich sehe das nicht so eng.
Wobei ich schon Wert auf Disziplin lege. Aber alles ganz spielerisch. Mit Zwang erreicht man bei Kindern nichts.
„Warum willst du jemand schlagen?“, frage ich. „Bist du ein böses Kind?“
„Aber nein!“, empört sich Lars sofort. „Ich …, also da gibt es diesen Jungen. Der klaut immer das Pausenbrot von Kindern. Und wenn du es nicht gibst schlägt und beißt er. Der ist voll gemein!“
Wie mein Vater vor Jahren bei mir gehe ich auf die Knie und winke Lars heran. Nun sind wir auf Augenhöhe.
„Wir spielen ein Spiel“, sage ich. „Ich bin der Junge aus der Nachbarklasse, der dein Pausenbrot haben will.“
Lars wirkt verunsichert. Er zögert kurz und nickt.
„Was machst du, wenn er es von dir fordert?“, frage ich.
„Auf die Nase boxen!“, kommt es ganz spontan. „Das bringst du mir doch bei?“
Ich verkneife mir ein Lachen, Lars muss keine Mayumi sein.
„Nein“, erwidere ich. „Gewalt wenden wir nur zur Selbstverteidigung an. Und auch dann möglichst sanft. Du wirst den Jungen fragen, warum er dein Brot haben will. Ob er vielleicht nichts zu essen hat und du mit ihm teilen kannst.“
Lars ist verwirrt, das ist deutlich zu sehen.
„Vielleicht hat der Junge keine Mutter, die ihm Pausenbrote macht. Und vielleicht ist er ganz nett und hat nur einfach keine Freunde.“
Einige Tage später erzählt mir Lars, dass er einen neuen Freund gewonnen hat. Eben jenen Jungen aus der Nachbarklasse, der wirklich nichts zu essen hat.
Gewalt ist keine Lösung.
Viele Menschen haben ein falsches Bild von Karate. Sie stellen das Wort mit meist schlechten Filmen gleich, in denen sich Bösewichte gleich haufenweise auf die Nase geben. Und genau da liegen sie falsch. Karate ist ein Weg, um zu sich selbst zu finden. Vor allem Kinder können das sehr gut. Sie erschaffen oft mit ihrer Fantasie ganze Welten. Und genau da hakt Karate ein.
Karate gibt vor allem schwachen Menschen die Fähigkeit, gegen scheinbar übermächtige Gegner zu bestehen. Nur muss dieser Gegner kein prügelnder Schurke sein. Auch der Alltag bietet allerlei Herausforderungen, die scheinbar übermächtig sind. Denen kann man kaum mit einem Tritt begegnen, aber mit innerer Stärke und Selbstvertrauen. Und das lehre ich.
Die wahre Meisterschaft eines Sensei liegt nicht darin möglichst viele und komplizierte Kampftechniken zu zeigen. Vielmehr geht es darum Schüler sanft auf die Härte des Lebens vorzubereiten und ihnen Stärke durch innere Harmonie zu vermitteln. Dann gewinnt der Schüler auch seine Kämpfe mit sich selbst. Indem er sie nach Möglichkeit vermeidet.
Meine Kinder sind alle noch sehr jung. Bei ihnen wird der Spaß an der Bewegung überwiegen. Der spielerische Aspekt, die Gürtelfarben. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie mit und durch Karate, einen besseren Weg durchs Leben gehen.
Du bist wirklich eine wundervolle Lehrerin!
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Dankeschön 🙂
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Davon bin ich überzeugt. Das Angrüßen, das Training, lernen, auch die andere Körper- und damit Hirnhälfte zu integrieren. Ich erinnere mich an meinen ersten mae-geri mit Links. Als würde das Bein gar nicht zu meinem Körper gehören. Es ist toll, wenn auf einmal alles zusammen arbeitet. Und bei Kindern geht das so viel schneller. Die werden bestimmt ihren Spaß haben.
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Nun musste ich schmunzeln 😉 Und spontan fiel mir der Begriff „Einbeinkämpfer“ ein. Viele Karateka haben genau dieses Problem. Sie können alles mit ihrer „guten Seite“, aber nicht mit der anderen.
Die Kleinen sind einfach supersüß anzuschauen. Das darf ich ihnen natürlich nicht sagen! Aber zu streng sein wäre auch der falsche Weg. Wir versuchen ein spielerisches Mittelding.
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„Einbeinkämpfer“ beschreibt das Phänomen wirklich gut 😀 Glücklicherweise bekommt man es aber mit viel Grundschule gut in den Griff, wenn man nicht völlig unbegabt ist.
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Das ist ein superschöner Text und ich kann nur bestätigen, dass Kampfsport für Kinder eine tolle Sache ist, auch und gerade um die eigene Kraft zu beherrschen und andere als körperliche Auswege zu suchen. Wer weiß, dass er oder sie sich wehren kann, geht mit Stresssituationen ganz anders um.
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Genau darum geht es mir. Ich mag keine Schläge(r) lehren, aber Selbstbewusstsein und Toleranz. Danke dir 🙂
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Das ist wirglich sehr schön Danke für das Lesen.Liebe Grüße von mir und Freundschaft.Gislinde
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Immer wieder gern, liebe Gislinde 🙂
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Du darfst Dir wegen der Drachenzwerge (was für ein schönes Wort!), Lars, seinem neuen Freund, … eine Portion Punkte in das „Buch Deiner guten Taten“ eintragen, symbolisch natürlich!
Eine schöne Geschichte! Ich hoffe sehr, dass Du öfter über diese kleine Bande berichtest!
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Dankeschön.
Wir werden sehen, was Kindermund noch so von sich gibt und was sich bei mir daraus dann an Gedanken assoziiert.
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Das klingt ja toll 🙂 Weiter so, und viel Spaß dir und deinen Drachenzwergen! (Toller Name, übrigens.)
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Danke dir. In Asien sind solche Namen normal. Da wimmelt es auch von fantastischen Wesen. So, wie bei mir zu Hause. Nur ist meine Elfe kein Drachen, aber auch nicht besonders groß 😉
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Was für eine schöne Geschichte 🙂 Gut gemacht!
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Dankeschön 🙂
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Ich finde die Art, wie Du mit Kindern umgehst, ganz große Klasse! Hoffentlich finde ich für meine Zwerge auch so eine/n tolle/n Sensei! 🙂
Man sollte ja nie vergessen: Die Kinder von heute sind die Erwachsenen von Morgen!
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Kinder mögen mich. Keine Ahnung warum 😀
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Ich bin dem (Klick) gefolgt, liebe Mayumi… Dein Können, Deine Vielseitigkeit – ich bewundere Dich!
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Jeder Mensch hat ein Talent in dem er ein Meister ist.
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